Kind Nr. 95 von Lucia Engombe - Deutsch-namibische Beziehungen


Lucia Engombe: Kind Nr. 95

Liebe Uli,

ja, „stories matter.“ Die wunderbare Chimananda Ngozi Adichie, die ich dank deines letzten Briefes kennengelernt habe, hat Recht: Wie viele Geschichten über einen Ort erzählt werden, hat letztlich auch mit Macht zu tun. Damit, wer die Möglichkeit und Mittel besitzt, seine Geschichte zu erzählen. Und ja, Klischees sind unvollständig erzählte Geschichten. Denn natürlich gibt es fast immer den anderen Blickwinkel und die andere Geschichte zum gleichen Thema, je nachdem wer wann wie erzählt. 

Als wir vor Jahren einige Monate in Namibia und vor allem Südafrika verbrachten, wurden uns hinsichtlich vieler Klischees die Augen geöffnet: Nein, wir mussten nicht in einer Hütte mit Strohdach leben, wie es eines unserer Kinder damals tatsächlich erwartete, und nein, man muss nicht ständig und überall fürchten, ausgeraubt zu werden. 

In Namibia waren wir als Touristen unterwegs und bekamen viele Orte und damit Wirklichkeiten gar nie zu Gesicht. Uns überraschte aber, in welchem Ausmaß die eigentlich sehr kurze Zeit der deutschen Kolonialherrschaft immer noch präsent ist: Es gibt nicht nur überall deutsche Geschäfte und Gebäude, sondern zahlreiche deutsche Radiosender, Zeitungen, Buchhandlungen, Bäckereien und Restaurants. Tatsächlich gerieten wir eines Abends in einem Gasthaus unfreiwillig in den Trubel eines Oktoberfestes mit Bierseligkeit und auf Deutsch gegrölten Liedern. Was ich zuhause jahrelang gemieden hatte, holte mich hier im südlichen Afrika ein...


Swakopmund

Wenn ich in einem Land bin, versuche ich immer Bücher der dort lebenden Autoren zu lesen. So kam ich in Namibia damals zu dem Buch, das ich dir heute empfehlen möchte: Kind Nr. 95  von Lucia Engombe. Die Autorin, 1972 im Norden Namibias geboren, erzählt in diesem Buch ihre eigene Geschichte und diese ist wirklich lesenswert, gewährt sie doch auch einen Einblick in die Beziehungen des DDR-Regimes mit den sozialistischen Kämpfern Afrikas. Das Spannende an dem Buch ist die Sicht, aus der erzählt wird: Die einer Namibierin, die einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in der DDR verbringt und zurück in Namibia nicht nur von Verwandten und Mitmenschen als „die Deutsche“ bezeichnet wird, sondern sich auch so fühlt.

Die Autorin beginnt mit ihrer frühesten Kindheit, die sie als Flüchtling in einem Lager in Sambia verbringt. Namibia, das von 1884 bis 1919 eine Kolonie des Deutschen Kaiserreichs gewesen ist, wird danach vom Völkerbund südafrikanischer Verwaltung unterstellt. Namibia ist reich an Bodenschätzen und so wollen die Südafrikaner dieses Land trotz internationaler Proteste nicht mehr hergeben. Es entsteht eine Widerstandsbewegung, die SWAPO (South West Africa People’s Organisation), der sich auch Engombes Vater anschließt. So landet sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern im Flüchtlingslager. Dort bestimmt Hunger ihr Leben. Im Wald gesammelte Käfer oder geröstete Raupen verhindern das Verhungern der Kinder, als die Mutter zur Zwangsarbeit verurteilt wird.

Als Lucia im Alter von sieben Jahren die Chance bekommt, in die DDR ausgeflogen zu werden, fühlt sie sich privilegiert und auserwählt. Durch die offiziellen Beziehungen, die die SWAPO zur SED unterhält, können insgesamt 80 unterernährte und kranke Kinder aus den Flüchtlingsgebieten in der DDR aufgenommen werden. Lucia Engombes neues Leben in der DDR beginnt im Winter, wo die Kinder zum ersten Mal Schnee erleben: „Zucker, dachte nicht nur ich. Dass es Salz sein mochte, kam mir nicht in den Sinn. Denn dort, wo ich jetzt war, konnte es nur Süßes geben.“ Das Aufeinanderprallen zweier Kulturen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, wird sehr eindrucksvoll aus der Sicht der Kinder beschrieben. Plötzlich gibt es so etwas wie Uhren und einen streng getakteten Tagesablauf. Überwältigt sind die Kinder von Spielzeug und dem geräumigen alten Schloss in Bellin, wo sie nun leben. Allein die Tatsache, dass es in ihrer Sprache keinen Begriff für Schloss gibt, zeigt die extreme Veränderung der Lebensumstände. In den folgenden Jahren, die von der Ich-Erzählerin meist als glücklich empfunden werden, lernen die Kinder Ordnung, Struktur und Disziplin, gehen zur Schule und werden zu Pionieren für den Befreiungskampf der SWAPO ausgebildet. Letzteres zeigt die Schattenseiten dieser Kinderverschleppung mit einem relativ gnadenlosen Drill, regelmäßigen Manöverübungen auch nachts, sexuellem Missbrauch und Schlägen. Trotz dieser Ausbildung zur neuen Elite Namibias entfremden sich die Kinder immer mehr von ihrer alten Heimat und verlernen langsam sogar ihre Muttersprache. Lucia liebt deutsche Märchen und klassische Musik, ist eine sehr gute Schülerin und Sportlerin und wächst zu einem Teenager mit den üblichen Problemen Jugendlicher heran. Im Hintergrund jedoch spukt immer der Krieg zuhause, die Angst um die zurückgelassene Familie, aber auch die Furcht vor einer Rückkehr nach Afrika in den Köpfen der Heranwachsenden herum.

Mit der Wende 1989 ändert sich alles, plötzlich gibt es keinen Grund mehr in der DDR ausgebildet zu werden und Lucia findet sich eines Tages auf einer Liste derjenigen, die zurück in die alte „Heimat“ gebracht werden sollen: als Kind Nr. 95. Der Traum, Medizin zu studieren, ist damit geplatzt.

Ernüchternd ist die Ankunft in Namibia. Am Flughafen vom Präsidenten und einem Chor willkommen geheißen, werden die Kinder anschließend in einer Schule im Township Katutura untergebracht und dort im Grunde erst einmal vergessen. Der Name Katutura bedeutet: der Ort, an dem wir nicht leben wollen. Die Trostlosigkeit dieses Ortes lässt Lucia an den Worten ihrer einstigen Ausbilder zweifeln, dass sie die Elite des neuen Namibias sein würden. Nach und nach werden die Kinder von Eltern oder Verwandten, die sie kaum kennen, abgeholt, schließlich auch Lucia. Die ihr fremd gewordene Mutter nimmt sie mit auf die Farm, die sie leitet. Für ihre Verwandten und die Namibier ist Lucia fortan „die Deutsche“ oder eines der „DDR-Kinder“. Sie denkt und träumt auf Deutsch und sehnt sich nach der Kultur, in der sie zehn wichtige Jahre verbracht hat. Über Freundinnen, die von deutschstämmigen Pflegefamilien in Namibia aufgenommen worden sind, lernt sie schließlich ein kinderloses deutsches Ehepaar mit einer luxuriösen Farm kennen und diese ermöglichen ihr mit großem Einsatz wieder eine Schule zu besuchen und ihren Abschluss zu machen. Am Ende des Buches trifft Lucia ihren verstorben geglaubten Vater wieder, der ihr die Geschichte ihrer Familie aus einer völlig neuen Sicht darstellt und sehr hart mit der SWAPO ins Gericht geht. Lucias Erzählung nimmt hier ein gutes Ende. Dass es nicht allen so geht, macht das Buch aber auch deutlich.

Sprachlich ist die Lektüre keine große Herausforderung. Die Verknüpfung afrikanischer und deutscher Geschichte, durch die ein namibisches Mädchen entwurzelt und zum Spielball zweier sozialistischer Regimes wird, ist aber ergreifend und interessant. Es ist eben EIN Ausschnitt aus der Geschichte der DDR und Namibias.

Die beiden Länder Namibia und Südafrika haben uns damals wirklich mehr fasziniert als jedes andere Land, das wir bereist haben, nicht zuletzt wegen der Landschaften und der Tier- und Pflanzenwelt. Deshalb schicke ich dir noch ein paar Bilder mit. Damit du ein bisschen Fernweh bekommst… 







Es grüßt dich herzlich 

Petra



Infos zum Buch Kind Nr. 95 von Lucia Engombe

Titel: Kind Nr. 95 

Autorin: Lucia Engombe

Verlag: Ullstein Verlag

Erschienen: 01.09.2004 

ISBN: 978-3548258928 

Umfang: 384 Seiten

Preis: 12 Euro


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