Weiße Rentierflechte von Anna Nerkagi - Tradition oder Selbstbestimmung?

 

Anna Nerkagi Weiße Rentierflechte


Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte

 

Liebe Uli,

„Der Schönheitsmythos der Gegenwart ist heimtückischer als alle früheren Formen des Weiblichkeitswahns.“ (Naomi Wolf, Autorin, polit. Aktivistin, 1991)

Was du in deinem letzten Brief über das Schönheitsdiktat in Südkorea schreibst, macht mich sprachlos. Ich hatte bisher noch nie über doppelte Augenlidfalten nachgedacht und bin erstaunt, dass dies in Korea zum Schönheitsideal gehört. Irgendwie natürtlich auch cool, wenn man mal das hat, was andere wollen – ab sofort werde ich mich jeden Morgen beim Blick in den Spiegel daran erfreuen… Woher kommt es, dass man immer genau den Eigenschaften hinterherläuft, die unerreichbar sind? Und wieviel Energie wird dabei verschwendet? Ist es eventuell auch für manche von Vorteil, wenn Frauen mehr mit ihrem Äußeren beschäftigt sind als mit Lohngerechtigkeit?

Dein Buchtipp steht nun ganz oben auf meiner Leseliste, da ist Vordrängeln mal erlaubt. Meine Erfahrungen mit der koreanischen Gesellschaft sind gleich Null und da kommt dieses Buch gerade recht. Halt – eine Erfahrung habe ich doch und die deckt sich mit den Erlebnissen der Hauptfigur in deiner Buchempfehlung: Während des Studiums war ich Teil einer Kochgruppe in unserem Studentenwohnheim. Wir waren meistens um die sechs Studierende, die sich einmal die Woche trafen und unter der Regie eines Mitglieds kochten. An den Abend, den eine südkoreanische Studentin leitete, kann ich mich noch sehr gut erinnern. Es gab Schweinefleisch süß-sauer und ehrlich gesagt, das war das beste Essen, das wir jemals in dieser Runde gekocht haben. Da konnten nicht einmal meine legendären Grünkernküchle mithalten… Was mich aber maßlos empört hat, war die Bewirtung. Die männlichen Teilnehmer bekamen immer zuerst und als ich einen Nachschlag wollte, wurden zuerst die Jungs am Tisch gefragt, ob sie auch noch etwas möchten. Die waren natürlich geschmeichelt und hoch erfreut, wie du dir vielleicht denken kannst. Und du kannst dir sicher auch sehr gut vorstellen, dass ich meine Klappe nicht halten konnte und dieses Thema angesprochen habe. Unsere südkoreanische Freundin erklärte uns daraufhin, dass es in Südkorea absolut selbstverständlich sei, dass die Männer am Tisch immer zuerst bedient werden.

Auch in dem Buch, das ich dir heute nahelegen möchte, werden Männer beim Essen bevorzugt behandelt und bekommen die nahrhafteren, fetteren und süßeren Speisen. Der Schauplatz ist ein ganz anderer, die Handlung findet in der heutigen Zeit statt. Es geht um eine komplett patriarchalische Gesellschaft, wo Männer das Sagen haben und Frauen für Haus, Herd und Kinder zuständig sind und sich ansonsten am besten zurückhalten. „Liest sie neuerdings Fantasy-Romane?“, wirst du dich jetzt fragen. Nein, sondern den ersten im deutschsprachigen Raum veröffentlichen Roman einer Nenzin. Nie gehört? Ging mir genauso. Die Nenzen sind ein auch heute noch nomadisch lebendes indigenes Volk im Norden Russlands. Bereits 1996 veröffentlichte die Autorin Anna Nerkagi ihren Roman auf Russisch, jetzt ist er ins Deutsche übersetzt worden.

„Weiße Rentierflechte“ – bereits der Titel des Romans verspricht eine besondere und eher ungewöhnliche Lektüre. Tatsächlich fand ich den Beginn ziemlich verwirrend und zäh. Der allwissende Erzähler springt teilweise von der Gegenwart in die Vergangenheit, es kommen viele Namen vor und die bildhafte Sprache mit fettgedruckten und im Anhang erklärten Begriffen haben mir den Einstieg in die Geschichte eher schwer gemacht. Nach ungefähr einem Drittel konnte ich mich jedoch immer mehr auf dieses Buch einlassen mit seiner tristen und öden Umgebung, den wortkargen Menschen und einer Thematik, die uns westlichen Lesern extrem fremd ist:

Der junge Mann Aljoschka, der mit seiner Mutter allein in ihrem Nomadenzelt (Tschum genannt) lebt, wird auf Beschluss des Ältestenrates gegen seinen Willen mit einem fremden Mädchen verheiratet. Aus unserer Sicht nicht gerade motivierend sind die Worte, die Aljoschkas Mutter als Erklärung an ihn richtet: „Der Mensch hat nie für sich allein gelebt. Und auch du brauchst eine Frau! Sie muss nicht schön sein, wenn nur ihre Arme und Beine nicht krumm sind, sie Feuer machen kann, die Fellschuhe trocknen, das Loch im Ärmel flicken. Wenn sie das alles kann, kann man mit ihr zusammenleben.“  Aljoschka jedoch trauert immer noch Ilne, der Tochter ihres Nachbarn Petko, hinterher, in die er unsterblich verliebt ist. Ilne lebt fernab der Nomadenvölker an einem anderen Ort in Russland und ist nicht einmal zur Beerdigung der eigenen Mutter zurückgekommen. Aus diesem Grund gleicht die arrangierte Hochzeit Aljoschkas eher einer Beerdigung und die Braut, die sich brav in ihr Schicksal fügt, kann einem leidtun. Aljoschka hält jedoch noch eine ganze Weile an seiner alten Liebe fest und ignoriert seine Ehefrau monatelang. Die Ansicht seiner Mutter, dass die Liebe im Leben völlig unwesentlich sei, kann er nicht akzeptieren: „Soll das wirklich alles so jämmerlich primitiv sein? Für ein solches Leben wird dem Menschen nicht viel abverlangt, tierische Instinkte würden ausreichen (…)“.

Und so sind es in dieser von starkem Zusammenhalt und von strengen Regeln und Traditionen geprägten Gemeinschaft vor allem die Jungen, die sich nicht mehr ohne Weiteres in dieses Gefüge einreihen wollen. Ich konnte Aljoschkas Gedanken und Gefühle natürlich absolut nachvollziehen. Umso mehr Einblick ich aber in die Gedanken und Lebensgeschichten der älteren Frauen und Männer erhalten habe, umso mehr konnte ich sie ebenfalls verstehen und umso größer wurde mein Respekt vor ihrer Lebensweise, die dem Hüten der Rentiere, dem Erhalten des Feuers und der patriarchalischen Familienstruktur gewidmet ist. Letztlich geht es immer ums nackte Überleben in einer unwirtlichen Umgebung, in der Hunger und Kälte alles bestimmen. Und dieses Überleben funktioniert eben nur, wenn sich alle in ihre Aufgaben fügen. Dieses Gefüge bedeutet auch Hilfe und Schutz für den einzelnen: „Wenn in einem Gespann ein Rentier vor Erschöpfung zu Boden fällt, lässt der Gespannlenker das Tier nicht dorthin und das Gespann zieht, ohne zu murren, den nun schwerer gewordenen Schlitten voran. Auf dem Weg der Not hatten die Nenzen die Gefährten ihres Lebens niemals ihrem Schicksal überlassen. Daher sind die Nenzen und ihre Tschums bis auf den heutigen Tag nicht aus der Tundra verschwunden, kann man sie finden am Fuß von Bergen, an Ufern von Flüssen oder in handtellerflachen Tälern.“

Als moderner Leser gerät man bei dieser Lektüre in ein Dilemma: Dieser Zusammenhalt, diese uneingeschränkte und selbstlose Hilfsbereitschaft sind natürlich schön und erstrebenswert. Selbst würde man jedoch in so einer Gesellschaft niemals leben können und wollen, dazu ist uns ein selbstbestimmtes Leben viel zu wertvoll. Auch die Beschreibung der Frauen und der Erwartungen an sie, ist teilweise schwer zu ertragen. Den Frauen kommt zwar eine lebenswichtige Rolle als Hüterin des Feuers und als Mutter zu. Wenn ein Mann seine Frau verliert, wird er im Grunde obdachlos, weil niemand mehr das Feuer hütet. Diese Aufgabe verleiht den Frauen durchaus Macht. Ansonsten haben sie jedoch keinerlei Rechte, werden durchaus auch verprügelt und fallen am besten durch nichts auf als Bescheidenheit und Fleiß. Die meisten Frauen haben im Roman nicht einmal einen Namen.

Die Sprache des Romans ist sehr poetisch, wie man es von anderen indigenen Völkern kennt: sehr bildhaft, mit vielen Metaphern, Vergleichen und Symbolen. Die Sonne, das Feuer und Bäume sind beseelt und spielen eine zentrale Rolle. Menschen, die das Leben genießen ohne ihre Aufgabe zu erfüllen, werden verächtlich als „Sonnenschlecker“ oder „Sonnenfresser“ bezeichnet.

„Weiße Rentierflechte“ ist sicher keine Lektüre für einen entspannten Nachmittag im Freibad oder am Meer, dazu ist zu viel Konzentration nötig. Der Roman ist trotzdem eine Bereicherung, indem er bewegende Einblicke in eine völlig fremde Lebensweise ermöglicht. Wunderschön sind außerdem die Fotographien von Sebastiao Salgado auf dem Cover und den ersten Seiten.

Freu mich schon auf deine Reaktion auf dieses sehr ungewöhnliche Buch!

 

Es grüßt dich von der anderen Seite der Alpen

Petra

 

 

Infos zum Buch 

Titel: Weiße Rentierflechte

Autorin: Anna Nerkagi

Übersetzer: Rolf Junghanns

Verlag: Faber & Faber

Erschienen: 01.03.2021

ISBN: 978-367301978

Umfang: 192 Seiten

Preis: 22,00 Euro



 

 

 

 

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