Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982 - Schönsein und andere Probleme
Liebe Petra,
ich schwelge gerade in Urlaubserinnerungen. Wie meine Eltern mich um 2 Uhr aus dem Bett gerissen haben, damit wir auch rechtzeitig zu, ja zu was eigentlich ankamen. Wie es mir regelmäßig im nicht klimatisierten Auto spätestens bei Landsberg schlecht war. Was meinen Vater übrigens nicht davon abhielt, den Weg nach Italien jedes Mal stilvoll mit der Überwindung eines serpentinenreichen Bergs zu beginnen. Stilfser Joch, Timmelsjoch, ich habe sie alle nicht in guter Erinnerung. Und ich schwöre dir, bis ich zum ersten Mal mit einer Freundin nach Italien fuhr, war mir überhaupt nicht bewusst, dass man auch relativ bequem über eine Autobahn ins Belpaese fahren kann.
Ach ja, und diese erste Fahrt mit der Freundin nach Italien. Besorgte Blicke allenthalben. Ich sage nur der Zirler Berg. „Werden die Mädels den Zirler Berg schaffen? Nicht zu viel bremsen! Besser immer im zweiten Gang bleiben.“ Und sobald möglich eine Telefonzelle aufsuchen und mitteilen, ob man den Zirler Berg überlebt hat.
Liebe Petra, ich finde, das wäre eigentlich ein Buch gewesen, das wir beide hätten schreiben sollen. Da hat uns mal wieder jemand die Idee geklaut, bevor wir sie selbst hatten.
Nun gut, einstweilen werde ich mich dann mit den Urlaubserinnerungen des Autorenduos Klüpfel und Kobr vergnügen und meine Urlaubserinnerungen mit ihren abgleichen.
Und inzwischen reisen wir von Italien weiter nach Südkorea.
Ein Land, von dem ich lange Zeit nicht viel mehr wusste, als dass es auch noch einen nördlichen, auf mich recht unheimlich wirkenden Teil gibt.
Dass ich jetzt ein bisschen mehr von dem Land weiß, kann ich nicht auf eine Reise dorthin zurückführen. Das habe ich in der ganzen Zeit in China leider nicht geschafft. Aber in ganz Asien merkt man den großen Einfluss Süd-Koreas in allen Bereichen: von Kosmetikprodukten bis K-Pop, von koreanischen Seifenopern bis Kimchi, dem Nationalgericht, das in etwa der koreanischen Interpretation von Sauerkraut entspricht.
Bei uns in Dongguan gab es eine sehr große koreanische Community, die zwar im Allgemeinen sehr gern unter sich blieb, ein paar koreanische Freunde habe ich in acht Jahren China dennoch gefunden.
Zum Beispiel Helen, meine koreanische „Zwillingsschwester“, die, obwohl im exakt gleichen Alter, eine makellose, faltenfreie Haut hatte, wie ich nicht ganz neidlos feststellen musste, und die mich bei starkem Sonnenschein stets unverzüglich in den Schatten zog.
Von den Koreanern kann man so einiges lernen, was Schönheitspflege betrifft. Koreanische Pflegeprodukte genießen in ganz Asien einen ausgesprochen guten Ruf. Vieles hätten wir uns vielleicht in unserer Jugend auch zu Herzen nehmen sollen, vor allem die Sache mit dem Sonnenbaden und dem Tiroler Nussöl. In Asien wäre uns das sicher leichter gefallen. Blütenweiße Haut ist dort ein absolutes Schönheitsideal. In diesem Punkt konnte ich übrigens immer punkten. So waren meine ersten chinesischen Vokabeln dann auch: Hao bai! Hao piaoliang! 好白! 好 漂亮!(Wie weiß, wie schön!) und das Schriftzeichen für bai 白(weiß) war eines der ersten, die ich gelernt habe. Wollte ich doch auf keinen Fall eine Gesichtscreme kaufen, die mich noch heller machen würde. Begeisterung konnte ich auch mit meiner doppelten Augenlidfalte auslösen, für die Asiaten töten würden. Also nicht nur für meine natürlich.
Bei den anderen beiden Merkmalen makelloser koreanischer Schönheit kann ich leider keine Treffer landen. Als perfekt gilt, wessen Gesicht sich zum Kinn v-förmig verengt und wer einen elfengleichen Körper hat. Na ja, zwei von vier ist ja auch schon mal was.
Tatsächlich geht das Schönheitsdiktat in Südkorea aber manchmal echt zu weit. Die Frauen stehen unter einem wahnsinnigen Druck, immer gut auszusehen. Wie unglaublich wichtig es ist, dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen, musste beispielsweise die Fernsehsprecherin Hyun-ju Yim erfahren, die es doch glatt gewagt hatte, Nachrichten mit Brille anzusagen. Ich würde doch hoffen, dass so etwas bei uns keine Schlagzeile wert ist. In Südkorea war das eine mediale Sensation.
Was mir allerdings nicht bewusst war, ist, dass neben dem Druck des perfekten Aussehens, der auf den koreanischen Frauen lastet, diese in einem Land leben, in dem es um die Gleichberechtigung ungleich schlechter steht als in vielen Ländern. In diesem Punkt war das Buch Kim Jiyoung, geboren 1982 von Nam-Joo Cho ein richtiger Augenöffner für mich. Natürlich besteht auch in Deutschland kein Grund, sich auf die Schulter zu klopfen, da haben wir uns unlängst erst darüber unterhalten, aber: „Laut einer Statistik aus dem Jahr 2014 verdienen Frauen OECD-weit umgerechnet 844 Dollar auf 1000 Dollar Einkommen der Männer, in Korea sind es lediglich 633 Dollar.“(S. 144) Es ist im negativen Sinne schon sehr bemerkenswert, wie das insgesamt schlechte Ergebnis in Südkorea sogar noch unterboten wird.
Es handelt sich übrigens nicht um ein Sachbuch, das ich dir hier vorstellen möchte, auch wenn der Stil, in dem es geschrieben ist, eher sachlich und nüchtern ist und wie ein Bericht anmutet, der emotions- und schonungslos den alltäglichen Sexismus der koreanischen Gesellschaft beschreibt und auch wenn der Text an vielen Stellen mit Berichten aus Zeitungen und offiziellen demografischen Daten kommentiert wird. Warum dies so ist, wird spätestens im letzten Kapitel aufgelöst, das ich, ohne dir etwas verraten zu wollen, genial fand, weil es einen schon fast sprachlos zurücklässt.
Nun aber zum Buch. Der Inhalt ist recht schnell erzählt. Die 33-jährige Kim Jiyoung lebt mit Mann und einjähriger Tochter in einer kleinen Stadtwohnung am Rande der südkoreanischen Hauptstadt Seoul ein wenig bemerkenswertes Leben. Der Name Kim Jiyoung ist übrigens so alltäglich wie in etwa Sabine Müller hierzulande. Es soll hier auch nicht ein spezifisches Frauenschicksal aufgezeigt werden, sondern das einer jeden (südkoreanischen) Frau. Wodurch die Protagonistin sich allerdings von anderen Frauen unterscheidet, ist, dass sie plötzlich in andere Persönlichkeiten schlüpft und mit deren Stimmen spricht. Was ihr Mann zunächst nur als eine Spinnerei seiner Frau abtut, kulminiert bei einem Besuch bei den Schwiegereltern, bei dem Jiyoung die Identität ihrer Mutter annimmt und in einer Art und Weise spricht, die ihrer altersbedingten Stellung in der koreanischen Gesellschaft nicht angemessen ist. Sie tadelt ihre Schwiegereltern und das ist etwas, was man in ganz Asien nicht macht. Ältere sind immer mit Respekt zu behandeln, no matter what.
Nach dem Eklat bei den Schwiegereltern beschließt Jiyoungs Mann, einen Psychiater zu Rate zu ziehen.
Rückblickend wird nun chronologisch die Lebensgeschichte der Protagonistin erzählt, die exemplarisch für die Mehrzahl der koreanischen Frauen ist und die, wie man vermutet, in irgendeiner Weise zu diesem ungewöhnlichen Verhalten beigetragen haben muss.
Wir erfahren von Jiyoungs Kindheit, in der sie und ihre ältere Schwester wie selbstverständlich immer hinter dem jüngeren Bruder zurückstecken mussten, dieser verhätschelt wurde, während die Schwestern schon früh für sich selbst sorgen mussten.
Auch in der Schule findet es niemand ungewöhnlich, dass die Jungen mittags zuerst das Essen bekommen und die Mädchen dann sogar noch dafür getadelt werden, nicht rechtzeitig zum Ende der Mittagspause fertiggegessen zu haben.
Wir lernen auch, dass Jiyoungs Mutter früh arbeiten gehen musste, um das Studium ihrer Brüder zu finanzieren. Bei Jiyoung und ihrer Schwester steht es zwar außer Frage, dass auch sie studieren, dennoch hegt die Mutter die Hoffnung, dass die Schwester Lehramt studiert, da dies ein vergleichsweise billiges Studium ist und sie als Lehrerin die Familie gut unterstützen kann.
Im Berufsleben erfährt Jiyoung, wie männliche Kandidaten, die schlechtere Abschlüsse haben, bevorzugt eingestellt werden und später wesentlich bessere Karrieremöglichkeiten haben. Als Jiyoung nach der Geburt ihres Kindes schweren Herzens ihren Beruf aufgibt und sich um das Baby kümmert, muss sie entsetzt mitanhören, dass sie nun von großen Teilen der (männlichen) Gesellschaft als Schmarotzer betrachtet wird, da sie auf Kosten ihres Mannes lebt.
Was auch immer sie macht, wie sehr sie nach den Regeln der Gesellschaft spielt, sie kann nicht gewinnen.
Je länger ich das Buch las, umso wütender wurde ich und umso mehr wurde mir klar, dass das Problem, das beschrieben wird, leider ein universelles ist. Es wäre wünschenswert, dass unsere Gesellschaft weiter wäre als die im Buch beschriebene koreanische Gesellschaft. Natürlich wurden in Deutschland bereits viele Dinge angestoßen und dennoch sind wir noch lange nicht an einem Punkt, an dem wir uns mit dem Ist-Zustand zufriedengeben dürfen.
In Südkorea wurde das Buch übrigens bereits verfilmt und die Mitwirkenden waren einem regelrechten Shitstorm ausgesetzt. Zumindest darin unterscheiden wir uns hier, wo außer ein paar ewig Unverbesserlichen doch die Mehrheit die Ungleichheit wahrnimmt. Zumindest hoffe ich das.
Kim Jiyoung, geboren 1982 ist für mich bisher das Highlight der Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe, und ich bin schon gespannt, welche Emotionen es bei dir auslöst.
Liebe Grüße
Deine Uli
Leseprobe Kim Jiyoung, geboren 1982
Infos zum Buch (Hardcover-Ausgabe)
Titel: Kim Jiyoung, geboren 1982
Autorin: Cho, Nam-Joo
Übersetzerin: Lee, Ki-Hyang
Verlag: Kiepenheuer&Witsch
Erschienen: 11.02.2021
ISBN: 978-3462053289
Umfang: 208 Seiten
Preis: 18,00 Euro
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