John von Düffel: Die Wütenden und die Schuldigen
John von Düffel: Die Wütenden und die Schuldigen
Liebe Uli,
ja, die
Franzosen machen einem das Erlernen ihrer Sprache nicht immer so leicht wie die
Italiener. Dort hat man ja wegen der begeisterten Reaktionen auf ein paar
auswendig gelernte Touristenfloskeln gleich das Gefühl, ein Einheimischer zu
sein… Tatsächlich finde ich aber, dass in der Bretagne alles anders ist und
auch ihre Bewohner sich in vielem von den übrigen Franzosen unterscheiden.
Heute
bleiben wir literarisch mal wieder in Deutschland, reisen aber doch eine
gewisse Strecke in eine Gegend, die wir beide wahrscheinlich weniger gut kennen
als viele Regionen Italiens: nach Berlin und in die Uckermark. Auch zeitlich
machen wir keine großen Sprünge und versetzen uns nur ein gutes Jahr zurück in
die Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020. Den Gedanken, im zweiten
Lockdown einen Roman über den ersten zu lesen, fand ich sofort spannend, aber
ein bisschen skeptisch war ich auch. Will man wirklich etwas über die
Corona-Einschränkungen lesen? Diese
Skepsis hielt nicht lange an und bereits auf der ersten Seite war ich so begeistert
von diesem Roman, in dem es um so viel mehr geht als nur um eine Pandemie: „Die
Wütenden und die Schuldigen“ von John von Düffel, der am 16.07.2021 erscheint.
Auf 300
Seiten lesen wir über eine Familie, die oberflächlich betrachtet nicht
unbedingt romanrelevant ist: Maria, eine geschiedene Ärztin lebt in Berlin,
ihre zwei erwachsenen Kinder Jakob und Selma sind bereits ausgezogen. Nach
einem Corona-Fall in der Klinik muss Maria für zwei Wochen in Quarantäne und
kann sich deshalb nicht mehr um ihren sterbenden Schwiegervater Richard
kümmern, einen pensionierten protestantischen Pfarrer, der allein auf dem Land
lebt. Deshalb schickt sie ihre beste Freundin und Palliativmedizinerin Kathi
und ihre Tochter Selma in die Uckermark, um Richard beizustehen. Gleichzeitig
möchte ihr Sohn Jakob, ein Kunststudent, wieder bei ihr einziehen, da seine
Freundin Ilvy ihn verlassen und aus ihrer Wohnung geworfen hat. All diese
Personen, die unterschiedlicher nicht sein können, werden mehr oder weniger von
einer Figur beeinflusst und bestimmt, die im Roman jedoch nur in Erzählungen
vorkommt: Holger, Marias Ex-Mann und Vater von Selma und Jakob. Seit einem
Suizidversuch zehn Jahre zuvor lebt er in einer psychiatrischen Klinik. Durch
ihn gewinnt die Geschichte an Tiefe, aber nicht, weil sein Schicksal das einzig
Interessante wäre. Er wird nur schemenhaft und aus fremder Perspektive
dargestellt. Das Spannende ist, wie die restlichen Familienmitglieder sich an
ihm abarbeiten und welche Entwicklungen und Erkenntnisse dies zutage fördert. Am
meisten leidet Selma, die glaubt, die Familie zusammenhalten bzw. wieder
zusammenführen zu müssen und unter dieser Verantwortung fast zerbricht. Auch,
weil alle zu sehr mit ihren eigenen Themen beschäftigt sind und keiner ihre Not
erkennt.
Ein ernster Roman
also, der Themen von existentiellem Gewicht behandelt: Liebe und Freundschaft,
Tod und Schmerz, Schuld und Vergebung. Vor allem aber die Weitergabe von
Traumata an nachfolgende Generationen. Dennoch geht von diesem Buch eine
außerordentliche Leichtigkeit und fast etwas Tröstliches aus – ein Verdienst
der Erzählweise, des subtilen Humors und des Stils. Unaufdringlich, nie
moralisierend und unglaublich einfühlsam stellt der personale Erzähler das
Geschehen dar. Dabei erzählt er abwechselnd aus der Sicht der
Familienmitglieder, mit viel Gespür für Atmosphäre. Gerade die Veränderungen,
die die Pandemie mit sich bringt, werden unglaublich treffend beschrieben, wie
bei Marias erstem Aufenthalt im Freien nach der zweiwöchigen Quarantäne:
„Die
Passanten und Paare auf den Gehwegen folgten anderen Schrittmustern, machten
Bögen umeinander, scherten aus und vollführten eine Art Abstandstanz, um sich
zu meiden.“
Wirklichkeitsnahe
und witzige Dialoge, überzeugende Figuren, starke Bilder und Symbole (Tiere,
insbesondere Katzen spielen eine große Rolle!), aber nie übertrieben oder
klischeehaft, sondern immer originell und nachvollziehbar.
Ein
wunderbarer Roman und so klug geschrieben, dass man nach Beendigung der Lektüre
gleich wieder von vorne anfangen möchte zu lesen!
John von
Düffel arbeitet übrigens neben der Schriftstellerei auch als Dramaturg an
deutschen Theatern und hat kurz vor dem Lockdown in Ulm das Stück „Ikarus“
inszeniert. Feuilletons und meine Bekannten waren hellauf begeistert. Ich
wollte dieses Stück, das nicht in meinem Abo enthalten war, noch sehen, aber du
weißt ja, dann kam der Lockdown… Tja, und seither ruht das Abonnement und die
Theater sind geschlossen. Ich finde es nach wie vor unglaublich, dass die
Kulturbranche als so wenig relevant eingestuft wird – Fußball hingegen als so
systemrelevant, dass man dafür auch Corona-Regeln außer Acht lassen kann.
Was für ein
Glück, dass wir im letzten Jahr unsere Bücher hatten.
Ich freue
mich schon, dich bald wiederzusehen!
Liebe Grüße
von
Petra
Infos zum Buch
Titel: Die Wütenden und die Schuldigen
Autor: John von Düffel
Verlag: DuMont Buchverlag
Erschienen: 16.07.2021
ISBN: 978-3832181635
Umfang: 320 Seiten
Preis: 22,00 Euro (gebundene Ausgabe)
Hinweis: "Die Wütenden und die Schuldigen" wurde mir umsonst von netgalley.de und DuMont zur Verfügung gestellt.
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